Nachbar:innen schlendern über den Wochenmarkt am Boxi.
Bild: Kareen Kittelmann

Ein Plädoyer für gute Nachbarschaft


Die Berliner Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Clara Herrmann, spricht im Interview über die Bedeutung von nachbarschaftlichen Beziehungen und die positive Auswirkung von guter Nachbarschaft auf das Miteinander im Bezirk.

Frau Herrmann, wie sehen die Nachbarschaften in Ihrem Bezirk aus?

Bild: Kareen Kittelmann

Clara Herrmann: Unser Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist der am dichtesten besiedelte Bezirk Berlins und damit eine der am dichtesten besiedelten Regionen Europas. Auf einem Quadratkilometer leben bei uns rund 14.500 Menschen. Die Menschen wohnen also sehr nah beieinander, übereinander, untereinander, nebeneinander,Wand an Wand, Tür an Tür, Balkon an Balkon.

Hinzu kommt die sogenannte Kreuzberger Mischung, auf die wir sehr stolz sind, weil sie für die Diversität steht, die wir im Bezirk leben. Die Kreuzberger Mischung bedeutet, dass es innerhalb von Kiezen, Straßen und auch Wohnhäusern eine soziale Durchmischung gibt und Wohnen und Gewerbe direkt aufeinandertreffen.

Wir finden also im Erdgeschoss eine Kita und einen Bäcker, im Hinterhaus Büros und zwischendrin Wohnungen für ganz unterschiedliche Bürger:innen. Außerdem gibt es bei uns natürlich auch viel Kultur - Clubs, Kinos, Theater und Galerien sind Teil unserer DNA in Friedrichshain-Kreuzberg. Es treffen in unserem vielfältigen Bezirk also viele unterschiedliche Lebenswelten, Bedürfnisse und Interessen aufeinander.

Das klingt aber nach viel Konfliktpotenzial?

Clara Herrmann: Überall, wo Menschen aufeinandertreffen, gibt es mal Streit. Die Menschen in unserem Bezirk sind für ihre Diskussionsfreude bekannt. Das ist auch gut so. Denn das zeigt, dass ihnen nicht egal ist, was vor ihrer Haustür passiert. Die Friedrichshainer:innen und Kreuzberger:innen sind unheimlich engagiert und aktiv in ihren Nachbarschaften. Sie achten aufeinander, wahrscheinlich gerade, weil wir hier mit so vielen Menschen auf wenig Fläche leben.

Das haben wir gerade im Vorjahr wieder erleben können, als der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begann und viele ukrainische Frauen und Kinder zu uns nach Berlin kamen. In unseren Nachbarschaften sind innerhalb weniger Tage viele Initiativen aus dem Boden gesprossen, die sich in der Ukrainehilfe engagiert haben. Viele bei uns im Bezirk haben Geflüchtete bei sich aufgenommen, sich in Unterkünften eingebracht oder kurzerhand in einem Friedrichshainer Café ein vielfältiges Angebot mit Sprachkursen für die Geflüchteten auf die Beine gestellt. Diese Bereitschaft, sich zu engagieren, beeindruckt mich bei unseren Bürger:innen immer wieder aufs Neue.

Spielt die eigene Nachbarschaft für die Menschen in der Großstadt Berlin überhaupt eine Rolle?

Clara Herrmann: Auf jeden Fall. Die meisten Leute hier sind echte Kiezpflanzen, denen ihr Wohnumfeld sehr am Herzen liegt. Sie identifizieren sich mit ihren Kiezen und dem lokalen Gewerbe vor Ort. Außerdem nutzen die Menschen bei uns im Bezirk die Infrastruktur um sie herum recht intensiv, die kulturelle, soziale und natürlich die kommunale, seien es Parks, Familienzentren oder Bibliotheken.

Woran merkt man das gute Nachbarschaftsverhältnis?

Clara Herrmann: Zum Beispiel daran, dass beim Nachbarschaftspreis immer wieder Initiativen und Projekte aus Friedrichshain-Kreuzberg nominiert sind. In diesem Jahr ging der Landespreis Berlin an die Initiative „Reichenberger Kiez für alle“ in Kreuzberg, diesich sehr intensiv mit mehreren Arbeitsgruppenfür einen lebenswerten und sozialen Kiez engagiert.

Da die wenigsten Menschen bei uns im Bezirk einen eigenen Garten haben – und auch nicht alle Wohnungen einen Balkon, spielt der öffentliche Raum im Alltag der Friedrichshain-Kreuzberger:innen eine entscheidende Rolle, viel mehr als dass in Gebieten mit Einfamilienhäusern der Fall ist. Die Menschen nutzen die Parks, Grünflächen, Spielplätze, aber auch Aufenthaltsbereiche im Straßenraum täglich und wollen zu Recht mitreden, wie der öffentliche Raum verteilt ist und beteiligt werden, wenn wir ihn umgestalten. Natürlich wird dabei heftig diskutiert, wenn beispielsweise der Straßenraum neu aufgeteilt werden soll. Der eine will für sein Auto einen Kfz-Stellplatz vor der Tür haben, die andere lieber ein Parklet.

Menschen sitzen im Görlitzer Park zusammen
Bild: Kareen Kittelmann

Was tun die Menschen im Alltag für den öffentlichen Raum in den Nachbarschaften?

Clara Herrmann: Im Sommer gießen viele mit Herzblut die Straßenbäume vor ihren Haustüren und bilden gemeinsam mit der Nachbarschaft Gießgemeinschaften. Wir sind der Bezirk mit den meisten temporären Spielstraßen in Berlin. Diese können wir nur mithilfe von ehrenamtlichen Kiezlots:innen umsetzen. Dort, wo wir in Kreuzberg bereits Flächen im Straßenland entsiegelt haben, haben Anwohner:innen die Pflege der neuen Grünflächen übernommen.

Außerdem gibt es in vielen Kiezen Initiativen, die sich für eine Verkehrsberuhigung einsetzen, weil sie unter dem Durchgangsverkehr in ihren Straßen leiden oder die Verkehrssicherheit für Rad- und Fußverkehr oder Kinder verbessern wollen. Auch die Themen Müllvermeidung, Zero Waste und Stadtsauberkeit liegen vielen Menschen in unserem Bezirk am Herzen. Sie versuchen, auf unnötige Verpackungen zu verzichten, organisieren Kiez-Cleanups nutzen Mehrweggeschirr und teilen und tauschen Gebrauchsgegenstände, Kleidung und Bücher. Kindersachenflohmärkte, Kleidertauschpartys, ob nun in unserer Stadtbibliothek oder andernorts, sind gefragt und gut besucht. Auf dem Wochenmarkt am Boxi setzen wir seit dem Vorjahr ein Mehrwegprojekt um, das unheimlich gut funktioniert – auch weil es von der Nachbarschaft getragen wird.

Ein Fahrradfahrer schiebt sein Rad durch eine autofreie Straße in Friedrichshain-Kreuzberg
Bild: Kareen Kittelmann

Welche Themen spielen in Ihren Nachbarschaften sonst noch eine Rolle?

Clara Herrmann: Ein großes Thema, das neben uns natürlich auch andere Innenstadtbezirke und Großstädte betrifft, ist der Erhalt von lokalem Gewerbe, Kiezkultur und sozialen Einrichtungen in den Nachbarschaften. Durch den aufgeheizten Mietmarkt werden gerade bei Gewerbemieten häufig Preise aufgerufen, die von inhabergeführten Geschäften oder kleinen Gastrobetrieben, Kindertagestätten oder auch Arztpraxen nicht gezahlt werden können. Immer häufiger müssen diese Einrichtungen und Betriebe, die integraler Teil der Nachbarschaft sind, in unserem Bezirk schließen oder wandern in die Außenbezirke ab.

Was uns im Bezirksamt ebenso wie viele unserer Bürger:innen außerdem umtreibt, ist die Klimakrise und die daraus notwendig werdende Klimaanpassung. Unser Bezirk ist, wie schon erwähnt, extrem dicht bebaut. Es gibt wenig Grünflächen, dafür viel Asphalt und Beton. So heizt es sich bei uns im Sommer extrem schnell auf. Das ist nicht nur unangenehm, sondern wird auf Dauer gefährlich. Darum müssen wir unseren Bezirk klimaresilient umbauen. Wir haben bereits begonnen, erste Flächen zu entsiegeln. Außerdem müssen wir unseren Straßenbaumbestand erhalten, dem die klimatischen Bedingungen ebenfalls zusetzen. Das ist eine Mammutaufgabe, die wir angehen – gemeinsam mit unseren engagierten Nachbarschaften.


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Johanna Falkenstein | nebenan.de

Johanna unterstützt das Kommunikationsteam von nebenan.de seit April 2018. Unter anderem beschäftigt sie sich mit Begegnungsformaten in der Nachbarschaft – online und offline.