Bild: Jabr Z. A. (privat)
Bild: Jabr Z. A. (privat)

Jabr aus Berlin: „Ich vermisse die Nachbarschaft aus meiner Heimat“


Der Syrer Jabr lebt seit über zwei Jahren in Berlin. Seitdem engagiert er sich in seinem Lieblingskiez Kreuzberg und hilft Geflüchteten bei der Integration. Mittlerweile fühlt er sich in Berlin zu Hause – aber seine syrische Nachbarschaft fehlt ihm.

„Ich mag es, wenn die Straßen voll Menschen sind“, erzählt der 29-jährige Jabr und trinkt einen Schluck Radler. „Deshalb bin ich so gerne am Kotti! Da kann ich einfach durch die Straßen gehen und auch mit fremden Leuten schnell ins Gespräch kommen“.

Denn das sei in Deutschland gar nicht so einfach: Ungezwungen ein Gespräch zu beginnen. 

Ich habe das Gefühl, der erste Schritt fällt in Deutschland nicht so leicht. Daran musste ich mich erst gewöhnen.

Die ersten drei Monate in Deutschland waren sehr hart für ihn. Alles war neu und ungewohnt. Er stürzte sich in seinen Sprachkurs und wollte so schnell wie möglich Deutsch lernen, um sich besser verständigen zu können. Mit Erfolg – heute ist sein Deutsch fast fehlerfrei.

​„Nach dem Sprachkurs habe ich einen Praktikumsplatz bei der Allianz bekommen und durfte danach sogar noch sechs Monate weiter dort arbeiten, weil sich der Vorstandsvorsitzende für mich eingesetzt hat!“, erzählt Jabr stolz.​

Seit April studiert er an der HTW Berlin im Master Finanzdienstleitungen und Risikomanagement, in Damaskus hatte er zuvor seinen Bachelor in Banken und Versicherungen abgeschlossen. Bei der Allianz arbeitet er weiterhin als Werksstudent.

Nicht nur durch sein Studium hat Jabr viele Freunde in Berlin gefunden. Von Anfang an engagierte er sich ehrenamtlich in seinem Kiez: Im Rahmen der Kreuzberger Initiative „Kiez hilft Kiez“ bietet er jeden Sonntag kostenlosen Arabisch-Unterricht an; auf dem Tempelhofer Feld organisierte er letzten Sommer das „Welcome Fest“ für Geflüchtete mit.

Jabr hat sich auch mit seinen Nachbarn über nebenan.de vernetzt und sie zu seinem Arabisch-Unterricht eingeladen. Denn aus Syrien ist er eine lebendige Nachbarschaft gewöhnt, wo man sich kennt und umeinander kümmert. „So ein Zusammenhalt fehlt mir hier noch“, sagt Jabr und kommt ins Schwärmen.

Jabr erzählt, wie er die Nachbarschaft in seiner syrischen Heimatstadt Suwaida in Erinnerung hat:

  • Jeder Gruß eine Einladung:
    In Deutschland grüßt man seine Nachbarn meistens mit einem kurzen „Hallo“ auf dem Flur. In meiner Heimat sagt man stattdessen immer „Hallo, wie geht’s, kommen Sie doch rein!“ Jeder ist eingeladen, kurz zu bleiben und einen Tee zu trinken.

  • Schneeballschlacht von Haus zu Haus:
    Ich habe in Syrien in einem Häuserblock mit Flachdach gewohnt. Beim ersten Schnee haben sich alle Bewohner auf der Dachterrasse von unserem Haus getroffen und sich eine Schneeballschlacht mit den Nachbarn auf dem Dach gegenüber geliefert. Jeden Winter ging das so und hat sehr viel Spaß gemacht!

  • Ein Hoch auf das Brautpaar:
    Als meine Schwester geheiratet hat, habe ich Einladungskarten an jeder Tür in unserem Haus verteilt. Erst hab’ ich mich von unten nach oben durchgeklingelt, dann bin ich ins nächste Treppenhaus und hab von oben nach unten jedem Nachbarn eine gegeben. Ich glaube, insgesamt habe ich über 1.000 Einladungskarten verteilt. Nicht alle Nachbarn bleiben für die ganze Feier, das ist meistens nur für die Verwandtschaft und die engsten Freunde. Aber am Tag der Hochzeit kommen die Nachbarn üblicherweise 20 Minuten vor Beginn der Feier mit Süßigkeiten und Geschenken, um dem Brautpaar zu gratulieren und ihnen alles Gute zu wünschen.

  • Der neue Nachbar:
    Wenn jemand neu einzieht, ist es üblich, dass man ihm Essen kocht oder ihn zum Essen einlädt. Am Anfang sind die Leute ja noch nicht so gut eingerichtet, da helfen die Nachbarn dann mit. So lernt man sich auch am schnellsten gut kennen!

  • Unterstützung bei Trauer:
    Wenn ein Nachbar stirbt, unterstützen die Nachbarn die Hinterbliebenen so gut es geht. Die Nachbarn kochen für die Familie, weil wir wissen, dass sie viel Besuch bekommen werden und keine Zeit haben, sich um alles zu kümmern. Als mein Nachbar gestorben ist, haben wir außerdem unsere Tür für die Besucher geöffnet, weil die Nachbarsfamilie nicht genug Platz für die Gäste hatte.

  • Zucker für den ersten Zahn:
    Wenn ein Kind im Haus seinen ersten Zahn bekommt, feiert man das mit den Nachbarn, indem man eine bestimmte Süßspeise aus Kichererbsen, Weizen, Anis und Zucker kocht. Diese bringt man dann in kleinen Schüsseln zu den Nachbarn. Wenn die Schalen leer sind, füllen die Nachbarn sie mit Zucker auf und bringen sie zurück. Ich bin mir nicht sicher, woher die Tradition kommt, aber so war es bei uns üblich.

  • Innenhof für Hochzeitsfeiern:
    Zwischen den Häusern gab es bei uns einen Innenhof, der für alle Nachbarn und die Kinder ein zentraler Treffpunkt war. Es gab Nachbarn, die kein Geld für eine große Hochzeit hatten. Dann haben alle zusammen im Hof gefeiert. Ich erinnere mich an ungefähr 10 Hochzeiten, die bei uns im Hof stattgefunden haben.

Dann wird Jabr nachdenklich und streicht sich über seinen Bart. Er ist der einzige seiner Familie, der Syrien verlassen hat und will die Menschen in seiner Heimat nun so gut es geht unterstützen. Kürzlich hat er mit Freunden einen Verein gegründet, der Spenden für sein Heimatland sammelt. „Ich weiß, dass die Leute in Syrien uns brauchen“, sagt er. Von einer Spende im Wert von 10 € könne eine ganze Familie gut eine Woche leben.

Jabr plant schon jetzt mit dem Verein eine Veranstaltung mit Bands und DJs, um Spenden zu sammeln. „Die Bürokratie ist gar nicht so einfach. Aber wir geben nicht auf!“, sagt Jabr optimistisch.


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Hannah Kappes | nebenan.de

Hannah Kappes arbeitete bis Juni 2023 im Kommunikationsteam von nebenan.de.