Bild: nebenan.de
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Im Interview mit Philipp Witzmann: Über Wege aus der Einsamkeit und politische Versäumnisse


Einsamkeit überwinden und Gemeinschaft stärken – eine große Herausforderung in einer zunehmend digitalen Welt. Einsamkeit ist ein Gefühl, das viele Menschen betrifft, aber selten offen angesprochen wird. In unserer modernen Gesellschaft, insbesondere in Großstädten wie Berlin, führt Anonymität oft zu sozialer Isolation.

Mit Philipp Witzmann, Geschäftsführer von nebenan.de, haben wir darüber gesprochen, wie die Digitalisierung dazu beitragen kann, Einsamkeit zu verringern und warum Länder wie Großbritannien Deutschland in der Bekämpfung von Einsamkeit einen Schritt voraus sind.

  • Warum sind Initiativen gegen Einsamkeit so wichtig?

    Vereinsamung ist eines der größten sozialen Probleme unserer Gesellschaft. Einsamkeit ist eine stille Epidemie und betrifft Millionen Menschen in Deutschland. Sie verursacht Kosten in Milliardenhöhe, denn Einsamkeit erhöht das Risiko für Krankheiten, Herzinfarkte und Angststörungen – sie ist so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag. Da ist es kein Wunder, dass Betroffene statistisch früher sterben. Die Stiftung Patientenschutz bezeichnet Einsamkeit sogar als „die größte Volkskrankheit in Deutschland“. Dennoch wurde das Problem lange unterschätzt und das wird es in weiten Teilen bis heute. Wir müssen Einsamkeit als gesamtgesellschaftliches Problem anerkennen und entsprechend handeln.

  • Warum ist das Thema Einsamkeit für dich persönlich ein Anliegen?

    Einsamkeit bedeutet nicht immer, dass man keine Freunde oder soziale Kontakte hat. Es gibt viele verschiedene Formen und Gründe, sich einsam zu fühlen, selbst in einem Raum voller Menschen. Während meiner beruflichen Zeit in den USA, in der ich wenig Zeit für meine Familie hatte und meine Kontakte überwiegend beruflicher Natur waren, habe ich mich häufig alleine gefühlt. Wir bei nebenan.de setzen hier an und möchten den Menschen helfen, wieder Anschluss zu finden. Die Nähe und Verbundenheit, die mir damals gefehlt hat, können die Menschen heute ganz einfach über unsere Nachbarschaftsplattform erleben: Fremde werden zu Bekannten, Bekannte zu Freunden. Unsere Plattform bietet viele solcher schönen Beispiele.

  • Was sind deiner Meinung nach die Hauptursachen für Einsamkeit?

    Die Gründe für Einsamkeit sind vielfältig. Besonders die zunehmende Anonymität unserer Gesellschaft und die wachsenden digitalen Angebote wie TikTok und Co. spielen eine große Rolle. Diese sozialen Plattformen verleiten viele dazu, große Teile ihres Tages allein in virtuellen Welten zu verbringen, anstatt sich mit Menschen im echten Leben zu treffen. Der Sog-Effekt von Social Media führt dazu, dass immer weniger Menschen Zeit im analogen Leben verbringen.

    Zusätzlich können die Nutzerprofile oft nicht auf ihre Authentizität geprüft werden. Viele verbergen sich hinter Fake-Profilen und verbreiten Hass. Bei nebenan.de hingegen kann man sich nur mit seinem echten Namen registrieren, was aus gutem Grund geschieht: Echte Namen fördern einen positiven Umgang miteinander und schaffen Vertrauen. Die Digitalisierung ist also nicht unser Feind – wir können sie als Werkzeug nutzen, um mehr echte Begegnungen zu ermöglichen.

  • Welche Rolle spielen digitale Plattformen wie nebenan.de im Kampf gegen Einsamkeit?

    “Online für Offline” ist unser Anspruch: Als digitale Nachbarschaftsplattform vernetzen wir Menschen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und können Einsamkeit damit direkt bekämpfen. Bei nebenan.de kann man ganz einfach neue Kontakte aus der eigenen Nachbarschaft knüpfen, gemeinsame Interessen entdecken und lokale Treffen organisieren. Dadurch entstehen echte soziale Netzwerke und Begegnungen, die die Anonymität durchbrechen. Im Gegensatz zu anderen Plattformen kann man sich bei uns sehr lokal vernetzen, was es leichter macht, nicht nur in Kontakt zu kommen, sondern diesen auch zu halten. Außerdem spielt persönliche Unterstützung eine große Rolle. In vielen sozialen Netzwerken bleibt es oft bei unterstützenden Worten oder Spenden aus der Ferne. Bei nebenan.de ist es hingegen schnell und einfach möglich, meinem älteren Nachbarn beim Einkaufen zu helfen oder mir eine Leiter auszuborgen. So schaffen wir echte Verbindungen, die im Alltag einen Unterschied machen.

    Unser Ziel ist es, unseren Nutzer:innen sinnvolle Möglichkeiten zu bieten, einander zu helfen, Empfehlungen auszutauschen, Dinge zu verleihen, sich zu verabreden und lokale Angebote zu nutzen. Regelmäßige Nutzer:innen unserer Plattform fühlen sich im Vergleich zu neuen Nutzer:innen zu 23% weniger einsam und isoliert.

Während der Pandemie konnten wir über 60.000 Menschen miteinander verbinden, und in der Hochphase der Ukraine-Krise wurden über 50.000 Betten durch unsere Nachbar:innen bereitgestellt. Nachbarschaftsfeste, gemeinsame Aktivitäten und regelmäßige Treffen sind ideal, um sich kennenzulernen und Freundschaften zu schließen. Auch kleine Gesten wie ein Plausch im Treppenhaus oder eine Einladung zu einem gemeinsamen Kaffee können viel bewirken. Zusätzlich fördern Nachbarschaftsinitiativen und Freiwilligengruppen wie Urban Gardening, Tauschbörsen oder Nachbarschaftshilfen den Zusammenhalt und schaffen regelmäßige Treffpunkte. So stärken wir das Gefühl der Zugehörigkeit, ermöglichen Austausch und verringern Einsamkeit sowie Anonymität in der Nachbarschaft. Diese Beispiele zeigen, wie wir als digitale Plattform nicht nur in Krisenzeiten, sondern auch langfristig Einsamkeit reduzieren und Gemeinschaft stärken können.

  • Habt ihr bestimmte Initiativen und Projekte zum Thema Einsamkeit?

    Wie vermutlich schon deutlich wurde, zielt unsere Plattform selbst darauf ab, Einsamkeit zu verringern. Darüber hinaus haben wir mit der nebenan.de Stiftung die größte Initiative gegen Einsamkeit in der Weihnachtszeit ins Leben gerufen: „Wir Weihnachten”. 2023 konnten über 200 große und kleine Weihnachtsaktionen gegen Einsamkeit in ganz Deutschland mit insgesamt 250.000 Euro gefördert werden. Bei einem gemeinsamen Weihnachtsessen hatten viele Nachbar:innen aus Berlin die Möglichkeit, sich persönlich kennenzulernen. Auch am jährlichen Tag der Nachbarn werden Nachbar:innen in ganz Deutschland dazu aufgerufen, zusammenzukommen.

    Es ist mir ein persönliches Anliegen, dass wir kontinuierlich an neuen Projekten und Partnerschaften arbeiten, um das Bewusstsein für Einsamkeit zu schärfen und nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Wir machen in Deutschland noch lange nicht genug. Das möchten wir ändern.

  • Welche Zukunftsvisionen hast du für die digitale Vernetzung und ihre Rolle im sozialen Zusammenhalt?

    Ich sehe eine Zukunft, in der wir mit nebenan.de noch mehr Nachbar:innen miteinander vernetzen. Menschen müssen sich im Digitalen verbinden. Ich glaube, das ist der einzige Weg, um Einsamkeit nachhaltig zu bekämpfen. Wir werden ein Teil der Lösung gegen Einsamkeit sein und sind auch davon überzeugt, dass unsere Nachbar:innen eine wichtige Rolle im auf uns zurollenden Thema Pflegenotstand spielen können. Ein großer Teil der ambulanten Pflegeaufgaben ist nicht medizinischer Natur, und hier glauben wir daran, dass wir durch die Einbindung der Nachbar:innen dazu beitragen können, dass sich mehr ausgebildete Pfleger:innen auf die medizinische Pflege konzentrieren können. Wir arbeiten bereits an einigen Pilotprojekten, die genau das beweisen sollen. Die digitale Vernetzung kann also nicht nur unsere Gemeinschaft stärken, sondern auch einen Beitrag zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten.

  • Was sagst du zum Engagement der Politik bei der Bekämpfung von Einsamkeit in Deutschland?

    Während Länder wie Großbritannien und die Niederlande schon vor Jahren erfolgreiche Strategien gegen Einsamkeit implementiert haben, hinkt Deutschland hinterher. In den Niederlanden startete 2018 das Programm "Een tegen eenzaamheid" ("Vereint gegen Einsamkeit") und in Großbritannien wurde das Thema 2018 sogar auf ministerieller Ebene angesiedelt. Die deutsche Bundesregierung verabschiedete erst Ende 2023 eine Einsamkeitsstrategie, deren Wirksamkeit ohne nennenswerte finanzielle Zusagen fraglich bleibt und meiner Meinung nach leider zu kurz greift. Bei den Erhebungen, die das Bundesfamilienministerium veranlasst, fehlt eine tiefergehende inhaltliche Auseinandersetzung: Warum ist das ein Problem für unsere Gesellschaft? Welche konkreten Maßnahmen ergreifen wir langfristig? Die aktuelle Situation zeigt, dass 50.000 Pflegekräfte in Deutschland fehlen.

    Auch das Thema Einsamkeit wird uns in Zukunft vor große Herausforderungen stellen. Da werden massive Kosten auf unser Sozialsystem zurollen, auf die keiner vorbereitet ist, wenn wir nicht anfangen, aktiv etwas dagegen zu tun. Erst im Mai 2024 wurde beispielsweise das Einsamkeitsbarometer veröffentlicht, welches misst, wie viele Menschen einsam sind. Es fehlen jedoch konkrete Konsequenzen. Laut einem Gutachten des amerikanischen Gesundheitsbeauftragten verursacht die Volkskrankheit Einsamkeit in den USA volkswirtschaftliche Folgekosten in Milliardenhöhe. Solange in Deutschland jedoch nicht transparent ist, was Einsamkeit die Gesellschaft wirklich kostet, wird das Problem nicht mit der nötigen Entschlossenheit angepackt. Konkrete Zahlen und eine klare Kostenaufstellung sind entscheidend, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen in Deutschland für alle aufzuzeigen.

    Das Kompetenznetzwerk Einsamkeit (KNE) ist ein guter Anfang, jedoch müssen weitere Maßnahmen ergriffen und Investitionen getätigt werden, um Einsamkeit wirksam zu bekämpfen und die massiven Kosten für unsere Sozialsysteme zu vermeiden.

  • Was gibt es noch für Herausforderungen?

    Wir müssen Wege finden, Menschen ohne Zugang zur digitalen Welt mit denen zu verbinden, die fast nur noch digital unterwegs sind. Es ist wichtig, Brücken zwischen diesen beiden Gruppen zu schlagen, um Einsamkeit effektiv zu bekämpfen. Ein weiteres Problem ist die Vernetzung im ländlichen Raum. Dort sind die Menschen oft stärker von sozialer Isolation betroffen, weil es weniger Möglichkeiten für spontane Begegnungen und soziale Aktivitäten gibt. Es ist von entscheidender Bedeutung, sicherzustellen, dass auch in ländlichen Gebieten Netzwerke und Gemeinschaften gefördert werden, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Zusätzlich müssen wir uns mit der steigenden Zahl älterer Menschen auseinandersetzen, die oft unter Einsamkeit leiden. Hier können spezielle Programme und Initiativen helfen, um die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe besser zu adressieren. Sie sind oft von bestehenden sozialen Netzwerken ausgeschlossen und benötigen besondere Unterstützung, um sich zurechtzufinden und Anschluss zu finden.

Zahlreiche schöne Geschichten von Nachbar:innen auf nebenan.de zeigen, wie digitale Vernetzung Menschen zusammenbringen kann. Nachbarschaften sind ein Schlüssel, um soziale Bindungen zu stärken und Einsamkeit zu verringern. Ob durch Nachbarschaftsfeste, gemeinsame Aktivitäten oder kleine Gesten wie ein Plausch im Treppenhaus – jede Interaktion zählt.


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Tags Created with Sketch. Einsamkeit Anschluss finden Zusammenhalt
Amy Fromm | nebenan.de

Amy Fromm unterstützt das Kommunikationsteam von nebenan.de seit 2024 mit Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.